Zusammen allein …

An der Station standen ein Mann im Anzug und eine Frau. Sie trug ein altmodisches Sommerkleid und schleppte mehrere schwere Taschen. Beziehungsweise.

Sie stiegen ein, schritten beide durch den halbleeren Bus und setzten sich. Ich wunderte mich. Kannten die sich? Setzten sie sich aus Zufall nebeneinander? Wollten sie vielleicht anbandeln? Dazu waren ihrer beider Gesichter zu mürrisch. Sie würdigten sich auch keines Blickes. Ein Paar, das streitet? Nein, sie hatten einfach augenscheinlich keinerlei Beziehung miteinander und mussten sich eben zufällig oder vielleicht in einer Anwandlung von simpler Menschlichkeit nebeneinander in die Sitzreihe gesetzt haben. Zu dritt saßen wir nun in dem Bus, der mir plötzlich wie eine Konserve vorkam – ich fühlte mich gefangen, alles wurde eng.

Bei jeder Bremsung hantierte die Frau umständlich an ihren Taschen herum. Sie wurde nicht wütend, sie zeigte keinerlei Emotion – nicht einmal einen belustigten Blick, wie man ihn oft auffängt, wenn einem Unbekannten etwas Ungeschicktes passiert.

Er saß regungslos und starrte zum Fenster hinaus. Vielleicht war ja auch sie diejenige, die gern angebandelt hätte, und er war einfach nicht empfänglich?

Er war der Typ des perfekten Buchhalters, wie er da so saß: im akkuraten Anzug, die Haare akribisch gekämmt. Seine Hände hatte er in den Schoß gefaltet.

Sie fand dann endlich eine Lösung für das Bremsdilemma und lagerte ihren Einkauf so, dass die Taschen sicher standen. Nun war sie ein Spiegelbild seiner Stimmung: regungslos verharrte sie auf ihrem Sitzplatz und wartete auf die Erlösung.

Kein Wort fiel, kein Blick wurde gewechselt. Was für eine öde Fahrt, dachte ich mir und blickte zum wiederholten Mal auf den Routenplan, nur um festzustellen, dass ich immerhin dem Ziel schon näher war. Die Stadt schmolz in der Hitze, kein Mensch war auf der Straße. Alle im Schwimmbad, im Urlaub oder im klimatisierten Büro. Keiner stieg ein, keiner stieg aus, alles war wie ausgestorben.

Meine Fantasie spielte. Was, wenn die ganze Stadt plötzlich eingeschlafen war, und ich wäre mit den beiden und dem Busfahrer dazu verdammt, ewig bewegungs- und emotionslos in dem Bus zu verharren – zu schwitzen – was, wenn DAS die Hölle war?!

Vielleicht aber waren die beiden ein Verbrecherduo, das bewusst auf unauffällig machte und den Bus entführen wollte? Aber wohin  und warum? Sicher nicht wegen meines Bargeldes.

Er nieste. Das Geräusch füllte den Bus wie eine unerwartete Welle, ich erschrak, sah die beiden wieder an. Sie rief: „Gesundheit!“, wühlte in ihrer Handtasche, hielt ihm ein Taschentuch hin und sagte in lieblichem Singsang: „Magst a Tempo, Franzl?“

Die Luft stand, er sah sie an! Ein knisternder Augenblick: er hob wie in Zeitlupe seine Hand, rotzte seine Nase am Ärmel seines Anzugs ab, starrte wieder aus dem Fenster und sagte in harschem Ton: „Naa!“. Woraufhin sie das Taschentuch wieder einpackte.

Sie zuckte nicht mit den Schultern, sie sagte nichts darauf, nicht einmal „hm“. Sie sah einfach wieder aus dem Fenster und beobachtete manchmal ihre Taschen.

Von ihm kam kein „Danke“, kein „Nein, danke“, überhaupt nichts außer „naa“.

Vielleicht war das wirklich die Hölle.

Beziehungsweise
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Wie sprechen Menschen mit Menschen? Aneinander vorbei.”
Kurt Tucholsky, dt. Schriftsteller (1890-1935)
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