Villons Stimmung …

Fast unmerklich ist aus dem regnerischen Sommer ein feuchter Herbst geworden.

Schwarzer Asphalt glänzt im Schein der Straßenbeleuchtung, unterbrochen und beunruhigt durch aufklatschende Regentropfen. Kastanienblätter, im Sommer durch eine Baumkrankheit auf den Bäumen braungeworden, liegen endlich am Boden und marnorieren die Straße – überfahren und zerrissen von Autos, zertrampelt von Fußgängern oder in voller Gänze, naß, platt und schlapp.

Im Park sind die Bänke leer und feucht, der Boden nass und voller Blätter wie die Straße oder erdig-sumpfig. Es riecht nach Moder und Verkehr. Die Sommerschuhe, schon längst durch aufgeweichte Erde schmutzig, getrocknet und wieder gereinigt, warten im Schrank auf das nächste Vogelgezwitscher.

Das ist wohl die Zeit für die gemütlichsten Spaziergänge: dicke Socken, feste Schuhe, warme Pullis und wasserabweisende Jacken wärmen, auch wenn das Gesicht vom Herbstregen naß wird. Und man kann gehen, wohin man will, selbst in sonst bevölkerten Ecken des Parks ist man fast allein.

Selten begegnet man einer Mutter, die einen Kinderwagen schiebt, an dem man vor lauter Abdeckung weder Kind noch Drapperie sieht. Schon öfter überwachen vermummte Gestalten den Weg eines muffig riechenden Hundes, mit schnellem, nach Hause drängendem Gang.

Kommt man heim, schlägt einem auffallend angenehme Wärme entgegen. Es riecht noch etwas seltsam in der Wohnung, weil der Staub, der sich während des Sommers im Ofen gesammelt hat, noch mitröstet, bis er endlich verschmort und der Geruch verschwindet.

Das Gefühl: seltsam zufriedene Ruhe und Traurigkeit, vermischt mit einer Spur Sentimentalität und tröstendem Glück.

Nur wenn ich es zulasse und zu grübeln beginne, spüre ich jedes Iahr wieder neu, daß ich in dieser Zeit, und zwar nur dann, Heimweh habe. Denn in unserer Metropole bedeutete mir Herbst: buntes Laub, knöchelhoch oder gar knietief und so trocken, daß es beim Durchlaufen raschelt; klare, schneidende Luft; sonnige, kalte Tage nach taunassen neblingen Morgen; den Geschmack von Bucheckern und Volksschule, und vor allem und am wichtigsten: den Geruch nach Erde, nach Feuer und nach Schnee.

Und dann vergleiche ich endlos scheinende Illufer mit im Kreis verlaufenden Parkwegen, Leute, die gemütlich Wein trinken und Kastanien essen, mit solchen, die „im Herbst immer so depressiv“ werden und sprechende Wälder mit Baumgruppen, deren Botschaft in Motorengeräusch erstickt.

Keine Frage: ein richtiger Herbst ist einer, den man in Vorarlberg verbringt, wo man durch Wälder streichen kann, ohne vorher mühsam einen Parkplatz suchen zu müssen. Nur eines hat die Provinz der Metropole voraus: In Wien wird der Herbst durch das Auftauchen der Krähen angekündigt. Und dann, wenn ich wieder an Francois Villon und Guntram Pfluger denke, wenn im Kopf eine Melodie „Die Krähen – ziehen – wieder durch die Nacht …“ umschwirrt, kommt das Gefühl, das oben beschriebene; nicht ganz so leicht, nicht ganz so intensiv, aber doch stärker als eine Ahnung oder eine weit zurückreichende Erinnerung.

Und dann hebt sich trotz Heimweh, trotz Großstadt und trotz fehlendem Feuergeruch mein Brustkorb zu einem frohen, zufriedenen Seufzer, der im Feuchten zerrinnt und sich über das Grau der Stadt verteilt.

Danke, Guntram.

Herbst
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It takes a great man to be a good listener.”
Calvin Coolidge, 30. Präsident der Vereinigten Staaten (1872-1933)
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